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Müller gegen Müller – Lesung, Gespräch, Musik & Film
5. September 2021 um 19:00 – 22:00
Widersprüche ohne Ende und am Ende das Ende
Lesung, Gespräch, Musik & Film – zu Heiner Müller
Online-Veranstaltung im Livestream
In den Gesprächen über die auf Müllers Übersetzung beruhenden Inszenierung des König Ödipus fällt der Begriff des »gesellschaftlichen Individuums«. Der tragische Protagonist sei eines, weil er die Widersprüche der Gesellschaft in sich verkörpere und austrage.
Auch Müller hat sich als gesellschaftliches Individuum verstanden. Er steht nicht auf der richtigen Seite, sondern auf beiden Seiten, »auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber « (Die Hamletmaschine). Sein Werk ist der Kampfplatz der Wirklichkeit, ein Komplex von Widersprüchen.
Müller schreibt gegen sich selbst und weniges war ihm wohl verhasster als der belehrende Gestus Brechts. Er, Müller, der Privilegierte, schreibt über die Armen; er, der Weisse, schreibt über die Schwarzen; er, der Europäer, schreibt über die kolonisierten Kontinente; er, der Mann, schreibt über die Frauen; er, der Mensch, schreibt aus der Perspektive des Endes der menschlichen Gattung.
Und er schreibt nicht bloss darüber, sondern in ihrem Namen: im Namen all derer, die von Rechts wegen den seinen auslöschen und zum Schweigen bringen sollten.
Im Januar 2021 erschien das Buch „Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung“, herausgegeben von Falk Strehlow und Wolfram Ette. Es entfaltet, unter welchen Aspekten Müllers Werk in einer gesellschaftlichen Situation adressierbar ist, in der Klassengegensätze sich verschärfen und die Selbstzerstörungs-dynamik des Gesellschaftssystems, in dem wir leben, zunimmt.
Aber was heisst heute: Klasse? Wie hängen Klassenschaft und Selbstzerstörung miteinander zusammen? Und lassen sich Müllers Texte als Matrix verstehen, auf der diese Prozesse, die vielleicht nur ein einziger Prozess sind, reflektiert werden könnten?
Die Planung des Bandes fiel in jene Zeit, die längst vergangen ist – die Zeit vor Corona. Durch die Pandemie gewann Biopolitik ein neues Momentum. Was unsere Gesellschaft ist, wurde anhand der zahlreichen Störungen, die unsere Existenz als individuelle Körper-wesen betreffen, schmerzhaft klarer. Und wir waren mit einer nicht-menschlichen Naturmacht konfrontiert, die unser Zusammenleben in Frage stellt: als Kontraktion der globalen Krise, in der wir stecken, als Auftakt zu denen, die folgen könnten.
»Gott ist ein Virus schrieb Müller«. Lässt sich mit dieser Behauptung jetzt etwas anfangen? Wir wollen also weiter diskutieren und improvisieren, performen, zeigen und fragen, wie sich das Begonnene fortsetzen lassen könnte – künstlerisch, wissenschaftlich, politisch. In verschiedenen Modi und Formen der Darstellung, die kein Ganzes bilden, die sich vielmehr überkreuzen und in Frage stellen: die die Widersprüche zur Erscheinung bringen, die wir selbst sind, und die das Nervenzentrum von Müllers Werk bilden.
(Text: Wolfram Ette)
Programm
1. Lesung und musikalische Improvisation:
Bericht vom Anfang
Der Bankrott des großen Sargverkäufers
Geld für Spanien
2. Podiumsgespräch, Teil 1
Thomas Heise, Anja Quickert, Falk Strehlow, Wolfram Ette
Thema: Klasse und Klassenverhältnisse heute – Mit Müller gegen Müller:
Wo kann man an ihn anknüpfen, wo muss man weiter?
Welche politische / künstlerische / theoretische Arbeit ist gegenwärtig
möglich / sinnvoll?
3. Film und Lesung
Das Ende des Menschen, wie wir ihn kennen.
Wolfram Ette
4. Podiumsgespräch, Teil 2
Thema: Das Ende der menschlichen Gattung – alte und neue Apokalyptik, Konzepte der Anpassung, Transformation, des neuen Menschen
Ist Müller in diesem Zusammenhang hilfreich – und wieder: wie kann man da weiterdenken, weiterkommen, mit ihm gegen ihn arbeiten etc.
5. Lesung und musikalische Improvisation:
Heiner Müller Aus Gesprächen und Interviews
6. Sarah Pogoda, Man in the Elevator (Film, spanisch)
Musiker:
Gregor Kuhn, Tony Müller, Tobias Brunn und Thomas Seibig
Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Wir danken für die Unterstützung.
Bildlizenzen: ID 50070954 ID 50070959 04.08.2021 (imago stock & people)